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Der verlassene Bahnhof                                                                                                                                         urs frey 

Auf dem Bahnhof fahren keine Züge mehr, er ist verlassen, der Billettschalter, wo man einst Fahrkarten in die ganze Welt lösen konnte ist leer. Kein Bahnhofsvorstand geht hier noch seiner Arbeit nach, es werden keine Weichen mehr gestellt.

Friedlich rosten die Geleise vor sich hin, aus dem Schotter spriessen die verschiedensten Pflanzen und langsam verschwindet der eiserne Geruch aus der Luft.

In seltenen Fällen kommt noch eine kleine Reisegesellschaft hier vorbei, auf irgendeinem Ausflug, abseits des Fahrplans, aber sonst ist hier Ruhe eingekehrt.

Nur im Fundbureau, auf einem Gestell liegt noch in dick eingewickeltes Zeitungspapier, gut verschnürt, ein kleines Paket.

Er würde wohl bald Zeit haben, sich dem Inhalt zuzuwenden, ein letztes Mal die Türe öffnen, und dann ....

An jenem Tag hatte er sich entschlossen, sich auf den Weg zu machen. Die letzten Meter wollte er zu Fuss gehen, er parkierte den Wagen an der Feldstrasse und ging mit zügigen Schritten durch den lichten Wald in Richtung der Geleise. Als er vor dem Schotterbett stand, hielt er einen Moment inne und erinnerte sich, wie er als Junge von Schwelle zu Schwelle gehüpft war, manchmal hatte er gezählt und dann war dieses Gefühl wieder in seinem Kopf, wie er immer das richtige Tempo suchen musste, so dass sich diese Schrittlänge ergab, dass es möglich war, in einen schönen rhythmischen Tritt zu verfallen. Er begab sich also in die Mitte des Geleises und schritt gemächlich weiter. Er mochte diese vom Eisenstaub verrosteten Schottersteine und staunte über jede Pflanze, welche es aus dem Schotterbett heraus schaffte, zu leben. Lange ist es her, als sie als Kinder jeweils am Geleise spielten und Steine und andere Gegenstände auf die Schienen legten und sich jedes Mal darüber wunderten, was das Gewicht der Lokomotive aus ihnen gemacht hatte.

Und ganz selten spielten sie dieses seltsame Spiel auf dem Geleise dem entgegenkommenden Zug entgegen zu laufen und dann begann der Lokomotivführer wie verrückt zu pfeifen und dann sprangen sie vom Geleise und langsam löste sich die Spannung und für ein paar Stunden war man ein Held. In seiner Erinnerung weiter schreitend merkte er gar nicht, dass er bei der Weiche links abgebogen war und vor dem Bahnhof den Weg zu den Abstellgeleisen nahm, dort, ganz hinten, ganz am Ende war der Prellbock und bis zu ihm gelangte selten ein Wagen. Früher war er beinahe von Gestrüpp zugewachsen nur auf der Höhe der Prellböcke war dieser eichene Querbalken, der jegliche Weiterfahrt verunmöglichte, denn hinter dem Prellbock stieg das Terrain an.

Von weitem sah er den Prellbock und für einen Moment nur hätte er gern mit ihm die Rollen getauscht, denn so vieles war in seinem Leben ins Stocken geraten und er hatte oft das Gefühl, auch wenn er sich bewegte, käme er nicht vom Fleck. So gesehen wäre das Warten am Ende der Geleise auf den Zug, der nie mehr käme, ein adäquater Tausch gewesen. Immer wieder dachte er daran, ja er hatte ein paar Steine geworfen, und er wusste nicht genau, wohin sie fallen würden, aber es waren mehr Seile, welche er geworfen hatte, nicht um jemanden zu treffen, eher um Halt zu finden, aber das alles war gründlich misslungen und er ging weiter dem Prellbock zu. Je näher er kam, desto mehr war es für ihn wie das Wunder, auf das er hoffte und das nie mehr käme, - ein Wagen rollte auf den Prellbock zu und er hatte gerade dieses Tempo, dass er bei ihm sanft abgebremst und zum Stillstand gebracht würde. Immer wieder verlor er sich in solchen Bildern, für Momente ging etwas in Erfüllung und ganz kurz nur, überkam ihn ein innerliches Lächeln.

Er war da, vor dem Prellbock.

Ja, dachte er, Prellbock war er auch, an ihm brach sich die Selbstgefälligkeit der verschiedensten Menschen, mit denen er noch unlängst mehr oder weniger nahe zu tun hatte. Ihn schauderte, wenn er daran dachte, mit welch leerer Freundlichkeit sie ihn jeweils grüssten, er, der an den Schlimmsten von ihnen nur noch wortlos vorbeiging und jede Begegnung vermied. Und je mehr er sie mied, desto freundlicher wurden ihre Begrüssungen. Aber das Schlimmste waren ihre Lacher, da fühlte er ihre ganze Verlogenheit, es war grauenhaft.

Er konnte es nicht ändern, plötzlich war wieder alles da, immer wieder holte es ihn ein und dabei wollte er nur noch vergessen.

Wie oft hatte er sich in jenen Tagen gewünscht, er könnte sich ganz auf den Moment konzentrieren, er könnte aus jedem Augenblick das empfangen, was sich gerade anbot, und es war beileibe nicht so, dass er nicht eine ganze Menge wahrnahm, aber es berührte ihn nicht, es erreichte nicht sein Inneres, denn das war entstellt. Und immer wieder tauchten Erinnerungsfetzen auf, manchmal in Form von Bildern, manchmal in Form von Geräuschen, ja, ein Geräusch konnte ihm eine Träne entlocken. Manchmal in Form von Gerüchen und dann war er für Momente so gefangen, dass er nicht mehr wusste, ob er nun ein junger Bursche war und das ganze Leben noch vor sich hatte oder ob er schon halb tot war und nur noch ein Nachschwingen ans Leben erinnerte, an die Verluste dessen, was das Leben hätte sein können. Und manchmal musste er fast brechen, so fremdbestimmt und ungeschützt war er dem Schatz seiner Erinnerungen ausgeliefert.

Hier war er sicher, kein Mensch weit und breit, nur die Wärme der Spätherbstsonne und für einen Moment erreichte ihn in einiger Ferne das beruhigende Geräusch eines vorbeifahrenden Güterzugs, er konnte die verschiedenen Züge anhand ihrer Geräusche voneinander unterscheiden, denn er war ganz in der Nähe einer Eisenbahnstrecke aufgewachsen und war oft beim Einschlafen auf das Geräusch eines vorbeifahrenden Zuges aufgesprungen und reiste mit ihm in die sanfte Ruhe des Schlafes. Jetzt erinnerte er sich auch wieder daran, weshalb er eigentlich hierher gekommen war. Da war dieses Paket, das er beim letzten Besuch auf einem Regal im Fundbureau gesehen hatte. Es erinnerte ihn, allerdings erst später, an seinen Vater, der bei der Bahn arbeitete und alleine schon der Gedanke an ihn, an den weit Gereisten, der aus der ganzen Welt Erlebnisse, manchmal in Zeitungspapier eingewickelte, nach Hause brachte, entfachte in ihm den seltsamen Wunsch noch einmal hin zu gehen und sich dem Geheimnis dieses Paketes zuzuwenden. Er verabschiedete sich also von dem Prellbock, mit dem er noch unlängst gern sein Dasein getauscht hätte und machte sich auf den Weg in Richtung Bahnhof. Mit dem grössten Selbstverständnis Schritt für Schritt, Schwelle für Schwelle liess er sich in einen Dreierrhythmus fallen und versuchte einem Gewirr von auftauchenden Namen und Gesichtern zu entfliehen.

Aber schon bald blieb er bei einem hängen. Und dabei wurde ihm in Erinnerung gerufen, dass er sich während des letzten Jahres seiner Anstellung das Pfeifen abgewöhnt hatte, er der seiner Lebtage immer ein Lied bei sich hatte, verstummte, andere pfiffen an seiner Stelle. Aber der Name verschwand löste sich wieder aus seinem Bewusstsein und wurde durch andere abgelöst und vor allem von der immer stärker werdenden Neugier, sich das Paket anzueignen. Bald sah er den Bahnhof, und erreichte das Perron Eins, wo auch das frühere Stellwerk in einem gläsernen Vorbau, natürlich zu einem späteren Zeitpunkt angebaut, an ebenfalls eine vergangene Epoche erinnerte, wie nun das ganze Gebäude. Er staunte schon als Kind, mit welchem Selbstverständnis die Bahnhofsvorstände ihre mit Goldband und dem SBB Logo gezierten Mützen trugen, viele von ihnen kannte er und er war immer ein wenig enttäuscht, wenn einer seine Mütze abgenommen hatte oder, wenn er ihn gar ausserhalb des Dienstes sah. Nach dem Glaskasten kam dann der Gebäudeteil, wo sich auch das Fundbureau befand und die Spannung stieg, bis hin zum Vorwurf, den er sich machte, wenn jetzt jemand anderer das Paket in der Zwischenzeit abgeholt hätte, aber, es war noch da, er sah es schon von ausserhalb, noch bevor er die Türe geöffnet hatte und er spürte eine eigenartige Erleichterung und je näher er um den Tresen herum an das Gestell trat, desto sicherer war er der Überzeugung, dass das, was da lag allein für ihn war. Er ertappte sich bei der Beobachtung, dass er mit beiden Händen nach dem Paket griff, geradeso, als ob es etwas höchst Zerbrechliches enthielte, dabei war es bloss ein in Zeitungspapier verpacktes Etwas, zugeschnürt mit einer grobfaserigen Hanfschnur. Es war leicht, eine Hand hätte gereicht, nichts Hartes war da in Zeitungspapier eingewickelt, so viel spürte er sofort. In der linken das Paket, öffnete er die Tür nach draussen, blickte kurz nach links, von da wäre eher jemand zu erwarten gewesen, dann nach rechts, - niemand zu sehen, er ging denselben Weg zurück, wieder auf den Schwellen, wieder im Dreierrhythmus und hatte das Gefühl einen Schatz geborgen zu haben. Diesmal ohne Namen, ohne Gesichter, er dachte darüber nach, wer wohl diese seltsame Zeitungspost liegen gelassen haben mochte, während er sich langsam der Stelle näherte, wo er das Geleise wieder verlassen würde, um schliesslich erneut durch den lichten Wald zum an der Strasse parkierten Wagen zurück zu gelangen. Sorgfältig legte er das Paket auf den Beifahrersitz und fuhr los.

Noch lag das Paket unausgepackt auf dem Schreibtisch. Er lag im Bett und schaute es an, in letzter Zeit dachte er oft an Hölderlins Satz: “ Ach hätte ich nie gehandelt, um wie viel Hoffnung wäre ich reicher“ .

Seit er einer anderen Beschäftigung nachging, als der des Lehrers, hatte er viel Zeit, während der Arbeit Gedanken nachzuhängen, oft genug spulte er Ereignisse in seinem Gedächtnis vor und zurück, wie, um sie noch einmal auf Ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, manchmal wurde er schier verrückt davon, manchmal musste er sich fast erbrechen, manchmal war alles ganz nah, dann wieder war er sich nicht sicher, ob es nur Gaukeleien seiner Tagträume waren oder Halluzinationen seiner Sehnsüchte. Oft genug blieb ein sanft abklingender Schmerz. Und dann haderte er wieder mit seinen Wesenszügen und verfluchte sich, bis ihn die Gleichförmigkeit der Arbeit, welche er gerade ausführte wieder in sich aufnahm und er wieder für Momente zurück war von seinen Erinnerungsreisen. -
Ein Güterzug quietschte, seit er sich dieses kleine Zimmer im ersten Stockwerk zurechtgemacht hatte, hörte er wieder den Zügen zu, welche unweit des Hauses in allen Himmelsrichtungen verkehrten. Wie oft hatte ihn ein vorbeifahrender Zug auf die Reise in den Schlaf mitgenommen und ihn von den Unruhen des Tages erlöst als er noch jung war und dieses Haus sein Zuhause war. Jetzt nahmen ihn die Geräusche der Züge wieder auf, manchmal konnte er gerade einen verfänglichen Gedanken noch loslassen und aufspringen, und einmal auf dem Zug war er wie gerettet, reiste in eine unbekannte hoffnungsvollere Welt, bis er manchmal in den frühen Morgenstunden wieder vom Quietschen der Bremsen jäh aus dem Schlaf  gerissen wurde und dann war vorerst an ein Weiterschlafen nicht mehr zu denken.

Jetzt aber lag er da, schaute ein letztes Mal das kleine Paket an und löschte das Licht. Er wartete auf dem Bahnsteig des Schlafes auf den nächsten Zug.

 

Der letzte Schnitt war angesagt. Der Sommer war schon weit fortgeschritten und der Rasen, der schon seit Jahren keiner mehr war, musste ein letztes Mal geschnitten werden. Es sollte ein angenehmer warmer Spätsommertag werden und das Gras war am Morgen noch angenehm feucht so, dass er mit dem bald 40-jährigen Spindelmäher einen schönen letzten Schnitt hinkriegte. Wie immer zog er ihn unter der Hauseingangstreppe hervor, wo er während des ganzen Jahres lagerte, also auch überwinterte. Er zog den Choke, umwickelte das Pulley mit der Anlasserschnur und war wie immer gespannt, ob es bei drei mal bliebe, er war nämlich sicher, dass der Briggs & Stratton spätestens nach drei Versuchen lief. In diesen Momenten erinnerte er sich immer an seinen Vater, wie er an der Schnur zog und kurz darauf am Vergaser oder an der Kerze herum hantierte oder sonst irgend etwas zu reparieren hatte. Und immer Öl verschmierte Hände. Er zog nun schon seit 10 Jahren maximal dreimal an der Schnur, dies obwohl er die Maschine nicht annähernd so seriös wartete, wie dies sein Vater noch getan hatte, er durfte gar nicht daran denken, wann er das letzte Mal Öl kontrolliert oder gar einen Ölwechsel durchgeführt hatte, aber solange die Maschine lief, wollte er keine Zeit verlieren, konzentrierte sich mehr auf die Messer, als auf den Motor. Wenn sie trotzdem nach dreimal nicht ansprang, ging er in die Garage und holte Benzin, er hätte den Mäher wieder unter die Treppe geschoben, wenn er nach drei mal nicht angesprungen wäre. Nun also zog er und noch tönte es so, als ob da gar nichts zu machen wäre. Die erste Schnur diente eigentlich nur dazu, dass Benzin in den Vergaser floss. Der zweite Versuch brachte die ersten ernstzunehmenden Zündversuche und beim dritten schliesslich, klappte es. Und sofort den Choke zu, sonst ersoff der Motor und dann würde er, wie seinerseits der Vater eine Menge Ärger haben. Aber er hatte es im Griff, die Maschine lief. Seit Jahren mähte er nach demselben Muster, es war, als ob er unsichtbaren Strassen folgte. Der Beginn war eine Leerfahrt, zuerst Richtung Strasse, dann entgegengesetzt, Richtung Pflanzgarten und dann musste er noch den Grasfangkorb einhängen, welchen er im hintersten Teil des Gartens in einem Schuppen lagerte und noch holen musste und dann ging die Fahrerei los. Bereits war der erste Korb voll und seine Mutter stand schon bereit mit dem fahrbaren Behälter, mit welchem sie das Gras jeweils zum Kompost führte. Gemeinsam luden sie das Gras aus dem Mähkorb in den Transportkorb um und er wollte immer die doppelte Menge umladen, und vielleicht wartete er immer noch auf ein anerkennendes Wort seiner Mutter, auch wenn er es gar nicht gehört hätte, weil nämlich während des Umladens der Motor weiter lärmte. Das war ihre gemeinsame Arbeit, sie verstanden sich nie besser, als wenn sie gemeinsam das Gras umluden. Die nach Gras greifenden Hände ergänzten einander und manchmal berührten sie sich, näher kamen sie sich nie. Der Rasen, die Mutter und er, das war ihre gemeinsame Beschäftigung und das würden sie wohl noch im Himmel tun und der Vater würde auf der Veranda sitzen und in die Weite schauen. Und dann machte sie sich auf den Weg zum Kompost und er legte den Gang wieder ein und ging hinter dem Mäher her und er hatte wieder angefangen zu pfeifen und obwohl im Motorenlärm eigentlich gar nichts zu hören war, bemühte er sich doch um höchste Virtuosität, manchmal konnte er selber nicht begreifen, warum er in diesem Lärm pfiff, aber es war gut, dass die Töne wieder aus ihm heraus wollten, wenn er auch in letzter Zeit oft schwieg, immerhin sein Reichtum an Tönen war nicht gänzlich zugeschüttet. Nach etwa einer Stunde war er fertig mit dem Rasen, jetzt sollte der Mäher immerhin zur Überwinterung etwas Öl an die Messer kriegen, damit sie nicht rosteten, er pinselte also etwas Altöl an die Messer und schob den Mäher wieder unter die Treppe, wo er auf den nächsten Frühling wartete. Nachdem er den Graskorb wieder in den Schuppen zurückgebracht hatte, nahm er noch den kleinen Rasenmäher heraus, um die Wiese unter dem Nussbaum zu mähen. Das war so ein billig Mäher aus dem Grossmarkt, weit nicht so sicher zum Laufen zu bringen, wie der alte, aber auch das gelang und er arbeitete sich noch durch die kleine Wiese, auf der er dann im Frühling den Schnitt der Apfelbäume häckseln würde. So machte er nun schon seit Jahren aus dem Kompost immer neuen Humus. Nachdem er auch diese Arbeit beendigt hatte, es war kurz nach elf Uhr, setzte er sich auf die Veranda, währendem seine Mutter ein kleines Mittagessen zubereitete. Wenn er so da sass, versank er oft in den Bildern von früher, als die Pergola noch stand, als das Schwimmbecken noch Wasser enthielt, als das ganze Leben noch vor ihm lag, und jedes Mal, wenn er sich freute, holte seine Mutter ihn auf den Boden zurück oder sie versuchte es zumindest und ihre Angst sich zu freuen mündete in der Sicherheit, dass nach Freude auch wieder Leid zu erwarten sei und so versuchte sie ihren einzigen Jungen stets auf dem Boden zu behalten, obwohl er so viel Talent zum Fliegen hatte. Der Mutter hatte er nie geglaubt, aber die letzten Jahre hatten ihn ganz schön heruntergeholt und er verstand sie besser als auch schon.

“ Essen!“, rief sie. “ Komme! “ , rief er. Er setzte sich an den Tisch und sie assen schweigend. Während dem seine über neunzig jährige Mutter ständig aufstand, etwas holte, sich wieder setzte, noch irgendetwas holte, blieb er sitzen. Er hatte sich daran gewöhnt, dass das Essen immer mehr oder weniger einer unvollständigen Improvisation glich und hatte sich ganz der Beobachtung hingegeben, wann was aufgetragen wurde und es beschäftigte ihn nicht mehr, wenn die Suppe einmal, weil sie vergessen worden war, erst nachträglich noch aufgetischt wurde, sie schmeckte auch dann noch und er wunderte sich oft darüber, welchen unvergänglichen Zauber die Küche seiner Mutter auf ihn ausübte, dies obwohl immer irgend etwas nicht so war, wie eigentlich beabsichtigt.

Nach dem Essen verliess er den Tisch, wie er es schon als Junge gemacht hatte und machte sich möglichst schnell aus dem Staub, während dem sie sozusagen ihrer absoluten Lieblingsbeschäftigung nach ging, nämlich wieder Ordnung zu schaffen und sich eher störte, als er am Anfang ihrer Zweckgemeinschaft seine Hilfe beim Abräumen anbieten wollte, da wurde ihr ganzes System durcheinander gebracht, dass er die Sachen einfach stehen liess und nach oben ging. Er hatte sich da, wo früher ausschliesslich Zimmerleute wohnten eines der beiden Zimmer hergerichtet und legte sich ein wenig hin. Aber die Zeiten, wo hinlegen Entspannung bedeutete waren vorbei, er lag kaum da, öffneten sich die Türen seiner Erinnerungen und er tappte verwirrt in den unendlichen Gängen herum und manchmal fragte er sich, wenn er nun kein Gedächtnis hätte, wenn er einige Türen so zusperren könnte, dass er wie deren Existenz auslöschen könnte, aber es waren ausgerechnet die Türen, die ihn am freudigsten lockten, die ihm immer wieder neue Blicke in die ewig alte Geschichte abverlangten, die ihn nie in Ruhe liessen, die ihn zu jeder Tages - und Nachtzeit überfallen konnten und oft musste er in irgendeine Tätigkeit flüchten, um den Überfall einigermassen heil überstehen zu können. So auch dieses Mal, er blieb nicht mehr lange liegen, ging in die Werkstatt, welche sich in den Kellerräumen des Hauses befand und machte sich an einem Schrank zu schaffen, den er schon einmal restauriert hatte und den er seinerseits von einer lieben Freundin bekommen hatte, damals blau angemalt, und von der ursprünglichen Bemalung mit einem Winkelschleifer befreit. Der erste Anblick, eine Katastrophe, trotzdem machte er sich damals an die Arbeit und er stand darauf einige Jahre in den verschiedensten Zimmern, wurde dann nicht mehr gebraucht und landete wieder in der Werkstatt, wo er ihn unlängst noch einmal einer genauen Betrachtung unterzog und erneut Hand anlegte. Er wollte näher an das Holz heran, er war noch nicht sicher, ob er die Oberfläche überhaupt noch behandeln wollte oder ob er sie überhaupt ganz roh lassen wollte. Im Laufe der Jahre ging er mit den Oberflächen immer defensiver um, auch wenn ihn die Politur einer schönen Nussbaumoberfläche immer noch betörte. Aber jetzt ging es erneut darum dieses faszinierende Gleichgewicht zu finden zwischen dem, was war und dem was sein könnte und das hiess geduldig schleifen und immer wieder schauen. So arbeitete er manchmal Stunden, in der linken, das Saugrohr des Staubsaugers, in der rechten, irgend einen Schleifapperat oder den Schleifklotz und immer wieder die Feinheit der Oberfläche spürend mit der Hand und das Bild des Holzes mit dem Auge wahrnehmend, abwägend, wann der Zeitpunkt zum Aufhören gekommen wäre. Ja, wenn er an sich als jungen Burschen dachte, hätte er damals nie für möglich gehalten, dass er je so viel Geduld aufbringen würde und er sich so in der Meditation des Schleifens verweilen könnte und am Ende eine tiefe Befriedigung über ihn kam. Er hatte diese Arbeit wieder schätzen gelernt, nachdem die Schule mit all ihren Unzulänglichkeiten verlassen hatte und war froh, dass er sich so innig dieser einfachen Arbeit, dieser Sache widmen konnte. Mein Gott, was hatten einige nicht versucht, ihn in das heute so hoch gelobte Teamboot herein zu holen, es grenzte an Nötigung, dabei war er ein ordentlich guter Schwimmer und je mehr der Gedanke des Teams das Tagesgeschäft prägte, desto mehr verging ihm die Lust diesem Team anzugehören. Und es war nur eine Frage der Zeit, bis er schliesslich mit einigen anderen einer eigentlichen Säuberungsaktion zum Opfer gefallen war. Natürlich hatte er sich das Ende seiner Schullaufbahn anders vorgestellt, aber  als er plötzlich sah, wie doch einige, wie Sonnenblumen ihre Hälse dem schulleitenden Licht entgegenstreckten und sich sehr schnell nur noch dafür sorgten, dass sie genügend Licht bekamen, wurde ihm immer bewusster, da war eine neue Zeit angebrochen, da wurde ein neuer Lehrertypus geschaffen, er konnte nicht mehr mithalten und wenn er dann von einem jungen Kollegen mehr als nur einmal liebenswürdig darauf hingewiesen wurde, er müsse halt gehen, wenn es ihm hier nicht mehr behage, traf ihn das sehr.

Aber jetzt war das alles für einen Moment vergessen, jetzt war er ganz Holzoberfläche, jetzt kommunizierte er nicht mit Worten, wenn die Oberfläche langsam aber sicher an Schönheit und Ebenmässigkeit gewann überkam ihn immer eine grosse Befriedigung und manchmal dachte er an die Zeit, wo er im Schlafzimmer zwei Kommoden aufeinander gestellt hatte, sie gefielen ihm beide derart, er wollte auf keinen der beiden Anblicke verzichten und dann träumte er manchmal von wahren Sälen, in welchen er seine schönsten Stücke unterbringen könnte, und die Masslosigkeit, eine seiner schwierigsten Charakterzüge ging mit ihm durch!

Etwas später, mitten im Nachmittag, noch war es angenehm warm, liess er die Arbeit ein wenig ruhen, setzte sich in den Wagen und schickte sich an, auf die Habsburg zu fahren. Und wenn er nach zwei Mal rechts abbiegen über die Eisenbahnbrücke gefahren war und am Fusse des steilen Anstiegs in den Wald hinein fuhr, wo die Spuren von Lothar immer noch deutlich zu sehen waren, erinnerte er sich an eine der letzten Fahrten, welche er mit seinem Vater unternommen hatte. Der Sturm hatte in diesem Wald besonders gewütet und so fuhren sie gemeinsam gemütlich in Richtung Habsburg, aber der Vater war damals schon nicht mehr bei der Sache, sein Blick verriet, dass ihn das nicht mehr sehr berührte, er schaute zwar aus dem Fenster, aber die Bilder, gingen nicht mehr in ihn hinein.

Bald kam links der Binsenweiher, ein kleiner Weiher, mitten drin mit einer Insel und manchmal, im Winter, wenn das Eis trug, konnte man auf die Insel. Und für einen kurzen Moment nur erinnerte er sich, wie er mit seiner Mutter durch den Wald streifte, an den Sonntagen, an denen der Vater Dienst hatte und damals war er glücklich in ihrer Nähe und sie war glücklich mit ihrem einzigen Jungen und dann sassen sie am Ufer dieses kleinen Weihers und wenn jemand kam, dann war die ganze Idylle zerstört und ihr gemeinsamer Blick auf die Insel, die so nah war und doch so fern, verlor sich für einen Moment, und manchmal warteten sie, bis die Eindringlinge wieder gingen oder sie gingen selber, weil die anderen keine Anstalten machten, ihnen die Idylle wieder ganz zu überlassen.  Bereits lag der Binsenweiher weit zurück und der Wald lichtete sich, gab den Blick frei aufs Schloss, wo es ihn hinzog. Das letzte Wegstück war schnell zurückgelegt und er parkierte den Wagen auf dem grossen Parkplatz am Südfuss des Schlosses. Sofort machte er sich auf den Weg Richtung Schinznach, vorbei, am zu seiner rechten gelegenen kleinen Rebberg, der zum Schloss gehörte und erreichte nach wenigen Schritten die Bank, auf die er sich setzen wollte, um ein wenig in seinen Erinnerungen zu verweilen. Kaum sass er da, den Blick Richtung Süden, kam ihm seine Tochter in den Sinn. Vor Jahren sassen sie beide auf der Bank, schauten auch Richtung Süden. Er sah sie neben sich, mit ihrem kleinen grünen Rucksack und dem aufgenähten roten Herzen darauf und immer hatte sie ein Frage. In einiger Ferne sah sie einen Reiter. ” Wer ist das, Papa?“, fragte sie und er antwortete: “ Das ist jetzt eben der Rudolf, weißt du, der, an dessen Tafel wir gerade vorhin im Rittersaal auf dem Schloss waren. – Ja, der hat ein Leben, der reitet am Tag in der Gegend herum und am Abend feiert er grosse Feste.“    Damals dachte er, dass sie viel zu ernsthaft wäre für ihr noch junges Alter, einzig ihre klaren Augen konnten ihn wieder beruhigen, und er hoffte so, dass nie jemand diese Klarheit trüben würde und doch wusste er, dass sie, verwandt mit ihm, irgend einmal weinen würde oder eine grosse Wut aus ihren Augen flackerte.

Und wie dieses Bild gekommen war, verschwand es auch wieder und für einen Moment sass er alleine da, und es wurde durch ein neues Bild aus der Erinnerung abgelöst und hörte jemanden sagen: “ Pass auf, du bist wie eine Kerze, die an zwei Enden brennt.“ Und tatsächlich, jetzt sass er da, wie die Asche zwischen dem erloschenen Leuchten, und er schaute nach Süden; die Wärme des Tages war brüchig geworden, ihn berührte die Zerbrechlichkeit des Herbstes. Jetzt überlagerten sich die äusseren Bilder mit den inneren und je mehr sich seine Augen mit Wasser füllten, desto verschwommener wurde das, was er sah. Da tauchte plötzlich dieser Vogel auf über ihm, und obwohl es nur ein Bussard war, holte ihn ein anderes Bild ein und er schaute in Gedanken den Kreisen eines Bartgeiers nach, der sich von den Höhenwinden hinaufschrauben lässt bis zur Sonne.

Ein Windstoss brachte ihn in die Realität zurück, ein leichtes Frösteln und dann nahm er die paar Meter zurück zum Parkplatz unter die Füsse. Nein, ins Restaurant wollte er heute nicht, zu sehr watete er im Moor der Erinnerungen, er öffnete, noch einiges vom Wagen entfernt, den Schliessmechanismus und das wurde mit einem eigentlichen Lichtspiel quittiert, seit er den neuen Wagen hatte, glaubte er gelegentlich einen Hund zu haben, welcher ihn freudig mit einem Lichtkonzert anwedelte, wenn er auf den Schlüssel drückte. Er stieg ein, drehte den Schlüssel und gleichzeitig mit dem Motor sprang die Musik an, Pieranunzi, “ Parisian Portraits “ , er hörte immer Musik, und sein Wagen würde wohl eher mit Musik fahren, als mit Motor. Und bald erreichte er wieder die beruhigende Geborgenheit des Waldes und fuhr zurück nach Hause, heute Abend würde er das Paket öffnen, das ihn, seit er es auf dem verlassenen Bahnhof geholt hatte, erwartungsvoll anblickte und ihn doch auf Distanz hielt.

Er war auf dem Weg nach oben, das Zimmer, das er erst notdürftig für sich hergerichtet hatte, war noch nicht sein Zimmer, vielleicht würde es es nie sein. Aber ein Roth Bett hatte er sich gegönnt, sonst war noch alles beim alten. Einen Schiebeschrank aus den fünfzigern, billigst, entsetzlich rot, die eine Schiebetüre, blau, die andere, aus Holz, das keines war. Darauf stand ein Plattenspieler, wie man ihn früher verwendete, so ein Kompaktgerät, mit eingebautem Lautsprecher, es stand da, war genau so Gast in diesem Zimmer, wie er. Sie störten einander nicht. Ausserdem stand da ein Sideboard billigster Machart an einer Wand, das Holz zur Unkenntlichkeit dunkelbraun gebeizt, vollgestopft mit Modelleisenbahnen, welche sein Vater leidenschaftlich gesammelt hatte. Darüber hing eine Vitrine, ebenfalls kein ansehnliches Stück, aber sie war praktisch, um weitere Modelleisenbahnen sichtbar zu lagern. Schliesslich war da dieser eintürige Tannenschrank aus der Biedermeierzeit, eines der ersten Stücke, welches er selber restauriert hatte, etwas zu dunkel gebeizt und ebenfalls noch gefüllt mit  Utensilien seines Vaters.  Endlich stand da noch dieses Tischchen, ebenfalls aus den Fünfzigern, und ein unmöglicher Klappstuhl, ein schwarzer Rohrstahlrahmen und darin eingehängt ein orangenes Tuch, eigentlich ein Campingstuhl. Er hatte nur den Wandschrank für ein paar Kleidungsstücke für sich in Anspruch genommen. Und dann hing da noch dieser Regulator, rund aus dunklem Nussbaum mit römischen Ziffern, immer mit derselben Uhrzeit: “ Sieben Minuten vor Eins.“ Er verspürte nie das Bedürfnis, die Uhr wieder zum Laufen zu bringen, hier war die Zeit stehen geblieben. Und an der Wand war da noch dieses Bild, aus Pattaya, es war ihm so fremd, dass er es gar nie anschaute, auch wenn er es betrachtete, sah er es nicht, es hing einfach da und es störte nicht weiter, und draussen fuhren die Züge und mit dem Geräusch der vorbeifahrenden Züge flüchtete er in die nächste Daseinsschlaufe und liess alles beim alten. Ja, er war nach Hause gekommen, aber er war nicht da, es war, wie damals, als sie durch den von Lothar geschädigten Wald fuhren, als sein Vater zwar die aktuellen Bilder wahrnahm, aber sie waren nur noch Kulisse für Erinnerungen, er sah sich schon aus einer gewissen Distanz, hatte schon von vielem Abschied genommen. So ähnlich kam er sich manchmal vor, wenn er in seiner kleinen Bleibe im Bett lag und seine Umgebung betrachtete. Gelegentlich nahm er sich vor, die eine oder andere Veränderung in Angriff zu nehmen, immer dann, wenn er nicht im Raum war, aber es gelang ihm nicht, es war, wie wenn ein Schleier zwischen ihm und der Wirklichkeit wäre, er war wie in einem handlungstoten Raum. Und bevor er sich anschickte, sich’s ein wenig bequem zu machen, langte er nach dem Paket, das er nun schon eine ganze Weile einfach auf dem Tisch hatte stehen lassen und legte es sich auf den Schoss. Er schaute es an und schon lärmte wieder ein Zug vorbei. Für einen kurzen Moment sah er es noch einmal, wie es da gelegen hatte, im Fundbureau und jetzt schickten sich seine Finger an, den Knoten zu öffnen, welcher es verschlossen hielt. Obwohl er ein Messer zur Hand hatte, wäre es ihm nie in den Sinn gekommen, die faserige Hanfschnur zu zerschneiden, nein das gehörte dazu, geduldig zu sein hatte er gelernt und ruhig wiederholten seine Finger einen Versuch nach dem anderen, den Knoten zu lösen. Und jetzt erhöhte plötzlich das Geräusch eines vorbeifahrenden Zuges seine Aufmerksamkeit und da löste sich der Knoten und er konnte die Schnur entfernen. Das Papier gab aber den Inhalt noch nicht frei, es hatte sich, durch eine lange Zeit an die Form gewöhnt und einen Moment lang zögerte er, einfach weiter zu fahren, um sich endlich dem Inhalt zuzuwenden, aber dann brach er ein, entfaltete die Hülle mehrlagigen Zeitungspapiers und sah vor sich eine dünne Baumwollschnur, die um ein Bündel sorgfältig zusammengefalteter Blätter gebunden war. Was konnte wohl auf den Blättern sein, fragte er sich. Und fast noch geduldiger widmete er sich dem Knoten, der die gefalteten Blätter zusammenhielt.

Vielleicht zum ersten Mal, während dem er seine Finger fast blind am Knoten arbeiten liess, betrachtete er für einen Moment das Bild aus dem fernen Osten. Friedlich lag da ein Boot vertäut in der Nähe einer Hütte, vielleicht bereit um auszufahren, lag es da.

Da löste sich auch schon der Knoten und das Bündel zusammengefalteter Blätter lag vor ihm.

Behutsam legte er das Bündel auf den Tisch und nahm nur das oberste der zusammengefalteten Blätter. Er entfaltete es und noch bevor er ein Wort als das, was es war in sein Bewusstsein aufnahm betrachtete er die Handschrift, mit welcher das Blatt beschrieben war und er überliess sich für einen Moment der angenehmen Wirkung, welche das handgeschriebene wohl gestaltete Schriftbild in ihm auslöste. Welcher massvollen Grosszügigkeit schien er da zu begegnen.

Er begann zu lesen. Ein Name; ein Gedicht?-

Er blieb darin hängen, es war gleichsam ein Irrgarten, er erlag dem Zauber der “ Bergkette der Hoffnung “ und den “ roten Pfingstrosen im Garten der Träume “.

Welche verletzte Seele hatte wohl diese Verse ausgewählt, die ihn vorerst so verweilen liessen, dass er gar nicht weiterlas, sondern immer wieder nur dieses Gedicht, Wort für Wort, Zeile für Zeile.

Schliesslich las er den Rest des Briefes.

“ Dass es nicht so einfach ist, wie in diesem Gedicht, das weiss ich schon, aber es wäre ein Anfang.

Ich habe dir in jenem Brief geschrieben, dass ich versuchen will, dich innerlich loszulassen....

Ja, aber es geht auch um die Liebe, die ich für dich empfinde. 

Ich will  nicht zulassen, dass sie verschüttet wird unter einem Trümmerhaufen aus Missverständnissen.

Ich möchte verstehen, ich möchte annehmen können, was mit dir und mir geschieht. Wo stehst du – wo stehe ich – was möchten wir leben – jeder für sich oder zusammen.

Ich wünsche mir, dass wir uns beide bei einer Drittperson treffen, und das zusammen anschauen. “

Er faltete das Papier zusammen, legte es sorgsam zurück und obwohl er wusste, dass das Geschriebene nichts mit ihm zu tun haben konnte, war er irgendwie berührt, dass er für einen Moment glaubte, in ein Heiligtum eingebrochen zu sein.

Er löschte das Licht, lag da und wartete auf den nächsten Zug.

Am nächsten Morgen blieb er lange liegen, irgend etwas beunruhigte ihn, beschäftigte ihn, er sann darüber nach, was ihn überhaupt veranlasste aufzustehen. Ja, früher war der Morgen mit seiner Offenheit, mit der er einen ganzen langen Tag voller Möglichkeiten eröffnete, ein wunderbarer Gastgeber, der es ihm leicht machte, aufzustehen und in den kommenden Tag einzutreten. Aber Heute, wo sein Leben aus Warten auf etwas, das er selber nicht recht wusste, bestand, Heute war es nur noch eine Gewohnheit, die ihn nach einer bestimmten Zeit das Bett verlassen liess. Ein Tag glich dem anderen, Ziele hatte er keine mehr, die Träume, an die er sich manchmal erinnerte waren ihm fremd geworden, sie waren wie aus einem früheren Leben, das er verlassen hatte, um sich auf diesen letzten Abschnitt zu begeben, waren alle zerplatz wie diese Seifenblasen, denen er manchmal als kleiner Junge so hoffnungsvoll  nachgeschaut hatte, wie wenn sie so weit in den Himmel hinaufsteigen könnten, dass man sie aus den Augen verlöre, aber schon damals versuchte ihn die Realität laufend vom Gegenteil zu überzeugen, aber er war nicht immer Realist.

Endlich stand er auf, ging hinunter und obwohl der Tag schon weit fortgeschritten war, regte sich unten noch nichts. Da er sich abgewöhnt hatte über Ungewohntes oder Veränderungen lange nachzudenken, mass er der Ruhe im Parterre keine Bedeutung zu. Also bereitete er sich einen Kaffee zu und setzte sich an den Stubentisch und schaute, nachdem er die Fensterläden geöffnet hatte, hinaus in den herbstlichen Garten. Früher war es ihm ein Vergnügen, am Morgen, wenn das Gehör noch ganz empfindsam war, Musik zu hören, da drang sie jeweils so wunderbar tief in ihn ein. Ein Zug nahte heran, unverkennbar, das Signal stand auf rot, man merkte es der Art des Geräusches, dass der Zug abbremste. Wie lange könnte man wohl ein Signal auf rot belassen, bis der Lokführer ausstiege und seinen Posten verliesse? fragte er sich.


Fortsetzung folgt.

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